Ein Beitrag zur Ausstellung: Dominique Gonzalez-Foerster „1887 – 2058“ in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf von Lothar Frangenberg

Es regnet heftig und anhaltend. Schutzsuchend tritt man durch einen abschirmenden Streifenvorhang aus Kunststoff in den Grabbe-Saal der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen. Gruppen eng zusammengeschobener, metallener Etagenbetten, noch ohne Matratzen, dienen offenbar als Schlafstätten. Scheinbar achtlos auf ihnen verteilte Bücher sorgen für ausreichenden Lesestoff. In ausgesparten Zwischenräumen stehen große Skulpturen. Sie kommen aus der näheren Umgebung und mussten ihren angestammten Platz im Außenraum verlassen, um im Dauerregen nicht noch weiter zu wachsen, noch monumentaler zu werden. Der „Shapiro“ ragt jetzt schon bis unter die Decke. Größer dürfte er nicht werden, um noch Platz in der schon überhohen Halle zu finden.

Man ist dem von der Künstlerin angebotenen Erzählstrang gefolgt. Nicht nur kündet ein Text am Eingang diese zukünftigen, intensiven Regengüsse an, sondern sie sind auch über eine große Videoprojektion bildlich und akustisch präsent. Man kann sich den vorgeschlagenen Rollen und seiner Fantasie hingeben, sich in die Zukunft an einen zeitlich verschobenen, dystopisch anmutenden Ort entführen zu lassen. Parallel bleibt jederzeit die Erfahrung präsent, sich real in der tatsächlichen Schutzhülle des Museums zu befinden. Der Besucher des Schutzraums „Museum“ betritt einen dort installierten, virtuellen Zufluchtsort für Menschen und Skulpturen, einen Schutzraum im Schutzraum: Die Skulpturen sind vergrößerte Nachbildungen der Originale. Die Bettgestelle sind auffällig mit blauer oder gelber Farbe lackiert. Die von Gewerbehallen bekannten Streifenvorhänge, die dort vor Lärm, Staub und Kälte schützen, sind in einem unübersehbaren, künstlichen Grün und Rot eingefärbt („Greenred“, 2012-2016). Ihre Schleusen- und Durchgangsfunktion wird hervorgehoben. Alle diese kleinen und großen Verschiebungen lassen diese Verdopplung des Raumes im Raum spürbar werden. Mit ihr greift die Künstlerin nicht nur die Rolle des Besuchers und seine Befindlichkeit auf, sondern setzt sich auch mit der Art und Weise des Ausstellens und dem Ausstellungsort auseinander. Die Halle als äußere Hülle dieser Präsentation rückt in ihrer ausgedehnten Größe und abschirmenden Lichtsituation in den Fokus. Für D. Gonzalez-Foerster ist sie der geeignete Platz, um die Arbeit, die sie 2008 unter dem Titel „TH. 2058“ in der riesigen Turbinenhalle der Tate Modern in London gezeigt hat, hier in verkleinerter Form und mit den Nachbildungen vor Ort verfügbarer Skulpturen noch einmal zu installieren. Der Titel der Arbeit „K. 2066“ (2008-2016) verweist erneut auf einen Zeitsprung von 50 Jahren in die noch ferne Zukunft.

Durchschreitet man einen weiteren Streifenvorhang, betritt man eine andere Welt mit völlig unterschiedlicher Atmosphäre. Von der Zukunft geht es mit einem kurzen Schritt in die Vergangenheit – in das „Splendide Hotel“ („Splendide Hotel (annexe)“, 2015), wie der Titel der Arbeit verrät. Sie ist mit der Jahreszahl 1887 verknüpft, dem Fin de Siècle des 19. Jahrhunderts, einer von Aufbruch- und Endzeitstimmungen geprägten Epochenschwelle. Man befindet sich in einer kleineren, niedrigen Raumschachtel, die in die große Halle eingeschoben ist. Die eine Seite bildet eine Fensterfront mit großzügigem Blick nach draußen. Ihre vertikale Gliederung wiederholt sich an der gegenüberliegenden, verspiegelten Wandfläche, die den Raum auch nach hinten zu öffnen scheint. Altertümlich anmutende Thonet-Schaukelstühle, die auf einem vollflächig ausgelegten Teppich stehen, laden zum Sitzen ein. Wenige weitere Requisiten, der Zeit entsprechend, sind in einer Ecke abgelegt und zusammengeschoben: ein Grammophon, ein Zylinder oder verwaiste Bücherstapel von musealer Anmutung. Es könnte in der Tat behaglich sein im „Splendide Hotel“. Die Klimaanlage funktioniert. Die Schaukelstühle bieten ein beschauliches Verweilen an. Die große Scheibe schützt vor äußeren Einflüssen. Man ist dem Treiben dort draußen seltsam entrückt. Man fühlt sich wie in einer Filmkulisse zurückgelassen, während draußen in scheinbar großer Ferne das tatsächliche Leben abläuft. Es kommt eine fast sentimentale Stimmung auf. Eine gewisse Schläfrigkeit setzt ein. Man spürt das Verstreichen der Zeit, auch der eigenen.

Diese Arbeit ist die Replik einer Installation, die die Künstlerin 2014 für den Palacio de Cristal in Madrid schuf, einer filigranen Stahl- und Glaskonstruktion, deren Architektur am großen Vorbild aus London, dem Crystal Palace, orientiert ist. An dieser Stelle macht es Sinn, sich einen Teil des vielschichtigen Geflechts von autobiografischen Verweisen und kulturgeschichtlichen Referenzen, die die Künstlerin in ihre Arbeit einbezieht, exemplarisch zu vergegenwärtigen. Nicht als Richtschur für eine empfehlenswerte Annäherung an ihre Kunst – das würde fast jeden Besucher in eine heillose Überforderung treiben – sondern um sich ansatzweise ihre Vorgehensweise bewusster zu machen: Das 19. Jahrhundert neigt sich dem Ende zu, die Moderne hat schon begonnen. Marcel Duchamp wurde 1887 geboren, die Verdi-Oper „Otello“ im gleichen Jahr in Mailand uraufgeführt. „Otello 1887“ (2015), das Video, in dem die Künstlerin Szenen der Oper verarbeitet, enstand während der Ausstellung „Splendide Hotel“ in Madrid. Der Titel „Splendide Hotel“ verweist auf ein Gedicht von Rimbaud. Es wird dort in einer unwirtlichen Gegend errichtet. Rimbaud selber gilt als einer der Begründer der literarischen Moderne, ist Verfechter synästhetischer Erfahrungen, und steht als Künstlerfigur für eine krisenhafte, brüchige Existenz. Seinerzeit verweilte er mehrfach auch geschäftlich im exotischen, vorindustriellen Äthiopien. Der Palacio de Cristal, eine damals moderne, technisch sehr anspruchsvolle Konstruktion, wurde ebenso 1887 errichtet. Als Glaspalast diente er der Präsentation fremder Gegenstände und Pflanzen aus den spanischen Kolonien. Diese Glaspaläste, deren kristalline Strukturen in der Szenerie der Künstlerin als abgeschwächtes Echo nachhallen, scheinen einerseits sinnbildhaft mit ihrem gläsernen Äußeren die Welt insgesamt einzubeziehen, andererseits erlauben sie als harte Grenze gegen dieses Außen eine wohlinszenierte, geschützte „Innenwelt“. Sie bietet einem Bürgertum, das sich seiner Errungenschaften und seines Reichtums bewusst ist, ungefährdetes Entspannen, Staunen und Konsumieren.

Beide Rückzugsorte, die provisorische Zuflucht unter prekären Umständen im großen Teil der Halle und die entrückende Komfortzone im Nachhall auf den Kristallpalast markieren die beiden Endpunkte der mit dem Titel der Ausstellung vorgegebenen, fiktiven Zeitschiene: von 1887, der mondäneren Vergangenheit im Aufbruch in die verschiedenen „Modernen“, bis 2058 in eine endzeitlich vorgeführte Zukunft unter Dauerregen. Die Grabbe-Halle funktioniert wie eine Zeitmaschine, mit der man abrupt zwischen diesen beiden Polen räumlich und zeitlich hin und her wechseln kann. Die Zeitachse ist aber nicht linear zu verstehen. Das zeigt der zweite Teil der Ausstellung in der Klee Halle schon in seiner Struktur auf. Er ist in Teilen labyrinthischer und verschachtelter organisiert. Die den Arbeiten zugeordneten Jahreszahlen springen. Und wieder weist eine Schleuse („espace 86 (rosa)“, 2016) auf den Übergang in andere Zonen hin. Durchquert man den rosafarbenen, hell erleuchteten, trichterförmigen Zugang steht man in der „Brasilia Hall“, wie ein Neonschriftzug mitteilt („Brasilia Hall“ 1998/2000, verknüpfte Jahreszahl: 1960, Einweihungsjahr der Stadt Brasilia). Umgeben von hohen, weißen Wänden ohne Decke steht man auf einem weitläufigeren, grünen Boden in einem entleert wirkenden Raumkonstrukt, das in seiner Anmutung uneindeutig zwischen Außen- und Innenraum zu pendeln scheint. Die wenigen klaren, ästhetischen Setzungen als Vorführung einer bereinigten, räumlichen Leere kippen ins Unwirtliche, lassen einen abprallen. Ein winziger Monitor an der Kopfwand zeigt Szenen aus der brasilianischen Hauptstadt „Brasilia“, dem Prototypen einer modernen, künstlichen Stadtgründung, einer Retortenstadt, in der Hoffnung auf die Verwirklichung eines vorbildlichen Gemeinwesens. Die Videosequenzen vermitteln eher ein trostlos anmutendes Bild der Stadträume. Auch hier dominieren die weiten und leeren Raumfluchten.

Links davon betritt man die einzige linear verlaufende Passage („Promenade“, 2007) dieses Ausstellungteils, mit dem sich die Leere der „Brasilia Hall“ fortsetzt. Der lange Gang wirkt wie ein Quasi-Außenraum, der das Gefühl vermittelt, an der eigentlichen Ausstellung vorbeizuführen. Erneuter Regen aus den Lautsprechern tut ein Übriges. Der Weg endet vor älteren Arbeiten der Künstlerin. Den Schlusspunkt bildet die der Kunstsammlung entliehene Arbeit Paul Klees, der „Schwarze Fürst“ von 1927. Sie hängt auf rosafarbenem Grund, dem farbigen Pendant zum Rosa der Eingangsschleuse, neben einer kleinen Fluchttür ohne Griff. Hier geht es nicht weiter. Der Weg ist tatsächlich zu Ende. Es sei denn, man lässt seine Einbildungskraft spielen und wird von einem Ausschnitt aus der Erzählung des spanischen Schriftstellers E. Vila-Matas inspiriert, der als gerahmter Druck in der Nähe des Bildes platziert ist. Man kann es der dort beschriebenen Aufsicht Rosa Schwarzer gleichtun, die sich von dem Bild angezogen fühlt. Der „Schwarze Fürst“ versucht, sie ins Bild hinein zu locken.

Der Weg zurück lässt einen an den nächsten Abzweigungen ins Innere, in die „Eingeweide“ der Ausstellung, zu den verschlungeneren Pfaden und Raumsequenzen vordringen. Es geht hinein in die dunklen, verwinkelten Höhlen mit ihren Videoprojektionen, in denen von der Künstlerin dargestellte Figuren aus vergangenen Zeiten erscheinen, wie der singende Fitzcarraldo, der als Figur im Film von Werner Herzog die Oper in die südlichen Tropen holen wollte („M. 2062 (Fitzcarraldo)“, 2014, verknüpfte Jahreszahl: 1892), bis hin zu treibenden Raumstrukturen, die halluzinatorische Science-Fiktion-Welten simulieren („Exotourisme“, 2002). Man steht vor einem Diorama, wie aus einem Naturkundemuseum entliehen, dem Gegenstück zur verregneten, endzeitlichen Welt in der Grabbe Halle. Hier schaut man in eine vertrocknete, verlassene, steinig-felsige Wüstenlandschaft, in der Spuren einstiger Bewohner und ihrer Kultur in Form von Büchern und Buchseiten herumliegen („Chronotopes Dioramas (Desertic)“, 2009/2016, zugeordnete Jahreszahl: 2066). Die einer Buchbeschreibung nachempfundene Inszenierung des Schlafzimmers von Rainer Werner Fassbinder erscheint in stark gedämpftem Licht und mit viel braunem Stoff. Sie hält alle Fassetten vom Hotelzimmer bis zur Filmkulisse offen. („R.W.F. (room)“, 1993, verknüpfte Jahreszahl: 1982).

Durch die wechselnden Lichtstimmungen, Orte und Zeiten gewinnen die Räume mit ihren wenigen Requisiten, einer Art Grundausstattung, etwas Prototypisches. Sie lassen Platz, sich dort selber virtuell einzurichten. Anders verhält es sich mit einem Raumszenario unter dem Titel „euquinimod costumes“ (2014, verknüpfte Jahreszahl: 2004). Es ist auffällig dicht mit Utensilien ausstaffiert. Es handelt sich überwiegend um Kleidung, gemischt mit Erinnerungsstücken wie Kinderzeichnungen, Fotos oder häuslicher Einrichtung aus dem Archiv der Künstlerin. Die Shirts, Pullover und Kleider, teils aus ihrer Kindheit, hat sie persönlich getragen. Die vier Wände dahinter sind harmonisch in Pastelltönen koloriert und betonen die Farbigkeit der Kleidung davor. In der so aufbereiteten Zurschaustellung bekommt sie etwas Kostümhaftes und Fetischartiges. Über die möglichen, individuellen Vorlieben der Trägerin hinaus wird deutlich, wieviel Kleidung immer mit Enthüllen und Verhüllen, mit auffallender Individualität oder Anpassung zu tun hat. Es ist ein mitunter ernstes Spiel des Selbst, sich zu kennzeichnen, ja zu etikettieren.

Ein rundes, grünsamtenes Sofa in der Mitte setzt auch hier den Bezug zum 19. Jahrhundert und dem Verweilen im Musealen fort. Auf ihm sitzend schweift der Blick des „Museumsbesuchers“ unwillkürlich umher und scannt gewohnheitsmäßig das Angebotene. Schon lassen sich die verschiedensten Korrespondenzen herstellen. Ein Foto der kleinen Gonzalez-Foerster hängt neben einem indischen Baum des Lebens. Die Zeichnung eines Kindernachthemds befindet sich neben dem offenkundigen Original. Solche Bezüge bieten sich nach und nach an, bleiben aber hinsichtlich einer endgültigeren Bedeutung wenig greifbar. Man sollte es nicht weiter übertreiben und dem manifestartigen Aufdruck auf einem Kleid folgen, der unter anderem folgendes Bekenntnis der Künstlerin enthält: „Ich wollte etwas finden, dass jeder, ohne etwas über zeitgenössische Kunst zu wissen, verstehen konnte." Ein brauchbares Leitmotiv für die ganze Ausstellung und sein Verhalten in ihr.

So sollte man es sich nicht zu lange auf dem Sofa bequem machen, um auf intellektuelle Schnitzeljagden zu gehen. All die Verweise und Hintergrundgeschichten und ihre rationalere Aufschlüsslung sind nicht wirklich notwendig für das eigene Verständnis der Ausstellung. D. Gonzalez-Foerster lädt ihre Arbeiten für sich mit einem komplexen System von Referenzen auf. Für den Besucher ergeben sich andere Aufladungen. Bedeutungsverschiebungen sind dabei unvermeidlich. Mit den vorgeführten Orten, Personen und Themen stellt sich ein Strom persönlicher und kollektiv codierter Erinnerungen ein, die je nach Betrachter zu unterschiedlichen Schnittmengen führen. Die evozierten, eigenen Bilder erwecken die oft kargen Inszenierungen zum Leben. Die persönlichen Vorstellungen kommen und gehen, verdichten sich und verblassen wieder. Wenn man versucht, der Künstlerin zu sehr auf die Spur zu kommen, kann man die eigene verpassen.

Es geht nicht um die Erzählung modellhafter Geschichten, sondern um atmosphärische Räume, in denen die äußeren mit inneren Bildern zusammenfließen. Projektionsräume werden zu Erinnerungsräumen. Die Architektur der Ausstellung spiegelt dies im Wechsel ihrer „äußeren“ und „inneren“ Zonen wider. Diese Räume präsentieren sich nicht als Bühnen für künstlerische Objekte, sondern als Darstellung möglicher, fiktionaler Welten im damals, heute und morgen. Sie erzeugen einen Schwebezustand, der eine aufdringliche Illusion vermeidet, um Assoziationen oder auch Spekulationen zu stimulieren. Der Besucher stellt den Plot als Gesamtes erst her. Dieser Prozess ist fortwährend und endet nicht.

Man findet schließlich ins vertraute Museumsfoyer zurück, wechselt ins Café und beobachtet – nur wenige Meter vom „Splendide Hotel“ entfernt – erneut das Treiben draußen vor den schützenden Glasscheiben…

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* Bezug zur Ausstellung: Dominique Gonzalez-Foerster 1887 – 2058; vom 23.04.2016 - 07.08.2016 im K20 - Kunstsammlung Nordrhein Westfalen, Düsseldorf