18. Jun 2018

*) Titel einer Lithografie von 1973

„Bruce Nauman: Disappearing Acts“ im Schaulager Basel, MOMA New York und MOMA-PS1 Long Island:

Isabel Friedli, Kuratorin am Schaulager Basel, beantwortet Fragen zu dieser Retrospektive von Lothar Frangenberg für kunstaspekte.

Als kuratorischen Leitgedanken der Ausstellung sehen Sie die von Ihnen erkannten Formen des Verschwindens, der Leere und der Abwesenheit, die sich als Motive durch das Schaffen von Bruce Nauman ziehen. Sie manifestieren sich trotz aller Offenheit des Gesamtwerks und Naumans künstlerischer Strategie, sich Festlegungen zu entziehen. Wie wichtig war es für Sie, einen solchen „roten Faden“ zu finden? Hätte es ohne ihn eine andere Ausstellung, ein anderes Konzept oder Arrangement gegeben?

I. Friedli: Einen „roten Faden“ zu finden war wichtig, um uns im kuratorischen Team darüber klar zu werden, was wir tun, als es darum ging, eine Auswahl zu treffen innerhalb einer Fülle großartiger Werke. Auswählen heißt notgedrungen auch weglassen. Natürlich kann bei einem Künstler wie Bruce Nauman ein einziges Leitmotiv nie treffend genug sein, um der gesamten Spannweite der künstlerischen Praxis gerecht zu werden. Gerade auch weil sich dieses Werk durch den Mut zum Experiment und eine verblüffende Vielfalt an Medien auszeichnet. Dennoch ist das Verschwinden als Handlung, Konzept, Wahrnehmungstest, magischer Trick, Arbeitsmethode und Metapher ein nützliches Stichwort von bleibender Gültigkeit, um sich einen Weg durch Naumans mehr als fünfzig Jahre umspannendes Werk zu bahnen. Auch enge Verwandte des Verschwindens – das Abwesende, die Leere und damit einhergehende Gefühle der Nichtexistenz, des Beraubt- oder Ausgeschlossenseins – treten in zahlreichen Formen auf. Spuren des Verschwindens sind in den Löchern in der Grösse von Körperteilen zu erkennen („Collection of Various Flexible Materials Separated by Layers of Grease with Holes the Size of My Waist and Wrist“, 1966), im Raum unter einem Stuhl („A Cast of the Space Under My Chair“, 1965-68), im Ich, welches immer gerade um eine Ecke verschwindet („Corridor Installation (Nick Wilder Installation)“, 1970), im nächtlichen Treiben eines vermeintlich verlassenen Studios („Mapping the Studio“, 2001), oder auch in den immer wiederkehrenden geistigen Blockaden, welche die Fähigkeit zu kreativem Schaffen unterminieren. Nicht zuletzt zielt „Disappearing Acts“ gerade auf die Flüchtigkeit und die Unmöglichkeit ab, Naumans Werk, das sich in der Tat gegen jeden isolierenden Zugriff sträubt, in Kategorien zu bändigen.

Besteht nicht die Gefahr, dass der „rote Faden“ zu einer Etikettierung von Naumans Gesamtwerk führt, die man eigentlich vermeiden möchte? Für viele Kritiker liegen die Qualitäten seiner Arbeiten in einer elementaren Heterogenität, die Inhalte und Bedeutungen in der Schwebe hält, und Gewissheiten nicht zulässt.

I. Friedli: Das Risiko der Etikettierung eines Gesamtwerks erschien uns kleiner im Vergleich zur Gefahr, die im Versuch liegt, allen Aspekten des Werks gerecht zu werden und dabei eine gewisse Beliebigkeit in Kauf zu nehmen. Andererseits gibt es ja auch die Vorstellung, Naumans Werk wirke schroff, aggressiv oder misanthrop, eine Art Vorurteil, das es zu widerlegen galt. Konzentriert man sich auf einen bestimmten Blickwinkel, zeichnen sich bestimmte Wesenszüge von Naumans Werk markanter ab. Sobald man sich in ein Werk vertieft, weitet sich der Blick ganz von alleine und dringt zu den vielen weiteren Ebenen vor. Die Metapher des Verschwindens hat zudem den Vorteil, im Umkehrschluss die Überlegung anzuregen, was denn da ist, und Fragen aufzuwerfen wie etwa: Wo ist mein Platz, was ist meine Haltung, wie positioniere ich mich?

Angeblich mischt sich der Künstler nicht in kuratorische Angelegenheiten ein. Hat er es diesmal auch nicht getan? Hat er sich nicht zum Konzept der Ausstellung und dem Leitmotiv des „Verschwindens“ geäußert?

I. Friedli: Tatsächlich will Bruce Nauman sich auf seine Arbeit und seine Kunst konzentrieren. Seine Studiomanagerin hält alles, was unwichtig ist, von ihm fern, so dass er sich auf das Wesentliche fokussieren kann. In diesem Sinne ist er ein geradezu idealer Arbeitspartner. Er hat sich immer dann und dort mit der Planung auseinandergesetzt und sich eingebracht, wenn wir seinen Rat brauchten. Er hat eine unglaubliche Fähigkeit, sich auf die notwendigen Dinge zu konzentrieren, und stellt sich irgendwo ein Problem, findet er die zugleich optimale wie einfachste Lösung. Mit ihm zusammen zu arbeiten, war großartig. Seine Verbundenheit mit unserem Ausstellungsprojekt lässt sich auch daran ablesen, dass wir insgesamt drei neue Werke präsentieren können, wobei die große Skulptur „Leaping Foxes“ in den letzten Wochen vor der Ausstellungseröffnung vom Künstler, seinen Mitarbeitern und dem Arthandling-Team des Schaulagers vor Ort aufgebaut wurde.

Dient dieser Leitgedanke auch als Einstiegshilfe für Besucher, um das Werk lesbarer zu machen? Für sie scheint die Fülle des Dargebotenen mit all ihrer medialen Präsenz und den optischen und akustischen Überlagerungen dem Gedanken des Abwesenden oder der Leere entgegenzustehen. Ist die Konzentration und Fokussierung auf die Einzelarbeit hier der Königsweg und weniger der vergleichende Blick auf das Ganze?

I. Friedli: Die Ausstellung ist in der Tat sehr umfassend und verlangt die volle Aufmerksamkeit der Besucherinnen und Besucher. Deswegen bieten wir ihnen im Schaulager auch die Möglichkeit, die Ausstellung mehrfach zu besuchen, indem das Ticket zu drei Eintritten berechtigt. „Pay Attention“ fordert der Künstler in einer Lithografie, und tatsächlich lassen einen die Werke von Nauman nicht in Ruhe, sie bieten keine einfachen Antworten und wirken je nachdem irritierend, verstörend oder auch humorvoll – auf jeden Fall wird kaum jemand nicht davon berührt. Das Verschwinden als roter Faden bietet sich an als Einstieg oder Fährte in ein Werk, welches ganz verschiedene Zugänge ermöglicht, wenn man sich darauf einlässt, wobei wir mit der Positionierung der Werke versucht haben, bestimmte Themenfelder zu eröffnen. Die Gruppierungen der Werke zueinander sollten außerdem deren Verbundenheit spürbar machen, das Kreisen um immer wiederkehrende Fragestellungen, die trotz der Verschiedenheit deutlich hervortreten.

Gibt es spezielle Überlegungen zur Besuchererfahrung und -führung? Welche Aspekte des Gesamtwerks neben diesem Leitmotiv sollte man unbedingt mitnehmen?

„Bruce Nauman: Disappearing Acts“ ist eine Retrospektive und soll den Besucherinnen und Besuchern die Möglichkeit geben, die Entwicklung des künstlerischen Werks zu verfolgen, auch wenn diese Bewegung natürlich nie linear verläuft. Somit haben wir – zumindest im Erdgeschoss – die Chronologie im Blick behalten, auch wenn diese immer wieder gezielt unterbrochen wird, um bestimmte Themen und Fragestellungen, auf die der Künstler wiederholt zurückkommt, hervorzuheben: Das Studio, der Körper, Modelle, Sprache, Ton und Klang etwa. So sind die ersten Räume der Ausstellung relativ klein und dicht konzipiert, um dadurch auf subtile Weise den Eindruck eines Ateliers wachzurufen. In diesen ersten Räumen zeigen wir die Anfänge von Bruce Naumans Schaffen, seine skulpturalen Experimente mit unterschiedlichen Materialien, frühe Videoperformances und Neonarbeiten. Ab den 1970er-Jahren werden die Werke größer, entsprechend weiten sich die Räume, um den zum Teil sperrigen, ausholenden und oft zur Partizipation auffordernden Arbeiten Platz einzuräumen. Die Videoinstallationen sind dagegen riesig und beherrschen den Raum. Darum treten im Untergeschoss der Ausstellung Themenkreise – Fragen zur Existenz des Menschen, Fragen nach Macht und Gewalt, Fragen zum Verhältnis von Mensch und Tier – anstelle der Chronologie nach vorne, so dass die Videoinstallationen, Karusselle, Neonarbeiten und Skulpturen ihre volle Wirkung entfalten können. Den Abschluss bilden die zwei neuesten Werke (z.B. „Contrapposto Split“), die vergleichsweise harmonisch und ausgeglichen wirken und gleichzeitig auf die Anfänge – den Körper, das Atelier – zurückverweisen.

Eine Retrospektive führt schnell zu einer gewissen Musealisierung. War das für Sie überhaupt eine Gefahr, gegen die es anzukämpfen galt? Soll die Ausstellung Zweifel an der Aktualität von Bruce Nauman beseitigen, um seine fortwährende Relevanz auch für jüngere Künstlergenerationen und ein jüngeres Publikum zu bestätigen?

I. Friedli: Der Gefahr der Musealisierung hat Naumans Werk schon nach der ersten Retrospektive 1994 getrotzt, und auch der Versuchung, sich zu wiederholen oder auf einen Typus festlegen zu lassen, ist er nicht unterlegen. In der Beschäftigung mit Naumans Werk stellt man fest, dass dieses merkwürdigerweise nicht zu altern scheint, es bietet ständig neue Anknüpfungspunkte zu verschiedenen thematischen Diskursen und wirft Fragestellungen auf, die andere Sichtweisen zulassen. Dies, obwohl man zu Beginn der Auseinandersetzung vielleicht dachte, dass dieses Werk längst schon abschließend erforscht sein müsste. Ungeachtet des Zeitpunkts ihrer Entstehung besitzen viele Werke eine unverminderte und erstaunliche Aktualität und eine Relevanz, die sich, so glauben wir, Besucherinnen und Besuchern jeder Altersgruppe mitteilt.

Gerade die letzten, großen Videoarbeiten zeigen den gealterten Künstler, der im Rückgriff auf frühe Videos erneut versucht, sein Studio abzuschreiten. Ist der Künstler, alleine in seinem Atelier als Handlungsraum mit seiner Körpererfahrung beschäftigt, nicht ein überholter Topos?

I. Friedli: Das Atelier als Keimzelle genialischen künstlerischen Schaffens oder die Vorstellung vom Künstler als unversiegbarer Quelle der Inspiration sind in der Tat Topoi, die sich hartnäckig halten. Mit diesem und anderen Gemeinplätzen setzte Nauman sich seit Beginn seiner künstlerischen Praxis immer wieder auf sehr ironische und selbstkritische Weise auseinander, man denke nur an die ikonische Neonspirale „The True Artist Helps the World by Revealing Mystic Truth“, 1967 oder aber an die Brunnenskulptur „Venice Fountains“, 2007, die vierzig Jahre später entstanden ist und die den Auftakt zur Ausstellung bildet. Das an ein Readymade erinnernde Werk besteht aus zwei einfachen Waschbecken, wie man sie in jeder Werkstatt antreffen kann. Durch transparente Schläuche fließt Wasser in ständigem Kreislauf durch verkehrt herum platzierte Masken: Abgüsse des Gesichts des Künstlers aus Wachs und Gips. Die krude Skulptur steht gewissermaßen als Porträt des abwesenden Künstlers am Eingang zu der Präsentation, die dem Motiv des Verschwindens und des Entzugs nachgeht. Im zweitjüngsten Werk der Ausstellung, der 3D-Videoarbeit „Contrapposto Split“, welches im Schaulager Weltpremiere feiert, wird die Betrachterin oder der Betrachter geradezu eingeladen, selbst in das Atelier des Künstlers einzutreten und sich darin umzuschauen. Der Topos mag alt sein, aber unter Naumans Zugriff gibt er bisher nie Gesehenes preis und ermöglicht eine ganz neue Art des Sehens.

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Bruce Nauman: Disappearing Acts
kunstaspekte-Ausstellungsseite im MOMA New York

Bruce Nauman: Disappearing Acts
kunstaspekte-Ausstellungsseite im MOMA-PS1 New York

Bruce Nauman: Disappearing Acts
kunstaspekte-Ausstellungsseite im Schaulager Basel