Ein Beitrag von Lothar Frangenberg

Die chinesische Künstlerin Cao Fei stellt im K21 der Kunstsammlung Nordrhein Westfalen aus. Sie ist 1978 geboren und lebt in Beijing. Die Ausstellung fasst ihr bisheriges Schaffen in einer retrospektiven Werkschau zusammen. Kurator ist Klaus Biesenbach.

Betritt man die Ausstellung im Souterrain, findet man sich schnell unter abgeschirmtem Licht auf einer Parkbank sitzend wieder. Man hat im zentral gelegenen „Night Garden“ („In the Night Garden“ 2007-2018) Platz genommen. Bis auf zwei Parkbänke ist alles, vom Rasen imitierenden, grünen Teppich über die antiquierten Leuchten bis hin zur Blumendekoration, unecht. Selbst der erhöht auf einem Sockel stehende, ehemalige Landesvater Deng Xiaoping, ist nicht, wie es den Anschein hat, aus schwerer Bronze gegossen. Er kommt gütig und freundlich grüßend aus Fiberglas daher. Dieser Minipark als künstliche Aufenthaltsinsel stimmt einen auf die großformatigen, benachbarten Videoarbeiten zur „RMB-City“, 2007-2009, (RMB: Renminbi, die chinesische Landeswährung) ein, die ihn dominieren und die Blicke auf sich ziehen. Die gezeigten Videos sind ein Konzentrat der jahrelangen Beschäftigung Cao Feis mit einer von ihr geschaffenen virtuellen, dreidimensionalen Stadtlandschaft. Der „Night Garden“ erscheint wie ein ins Reale projizierter Auswuchs dieser artifiziellen und spielzeughaften Szenerien. Teils bonbonbunt oder neongrell wächst das städtische Agglomerat, im weiten blauen Ozean liegend, auf einem zu kleinen, aus allen Nähten platzenden Eiland in den endlosen Himmel: eine Dauerbaustelle, vom Glitzern plakativ übertüncht. Zitate historischer und neuerer Architekturen samt Infrastruktur türmen sich nach oben. Mancherlei entschwebt schwerelos. Fahrzeuge flitzen durch die Luft, während ein gewaltiger Schlot feurigen Rauch ausstößt. Über allem steht ein riesiger Fahrradreifen mit Felge. Die Proportionen sind munter durcheinander geraten. An den Rändern und Ufern der Insel geht es maroder zu. Das „Vogelnest“, das moderne, imposante Nationalstadion aus Beijing, scheint verrostet und verrottet schon wieder ins Meer zu rutschen. Cao Fei benutzt einem Avatar namens „China Tracy“, mit dem sie ihre „RMB-City“ durchstreift. „China Tracy“ tritt in verschiedenen Kostümierungen als selbstbewusste und toughe Figur mit der Attitüde einer Superheldin auf. Sie agiert kraftvoll und leichtfüßig in dem auch von anderen Avataren bevölkerten Konstrukt. Hier trifft Marx auf Mao Zedong oder Laotse. Dieser virtuelle Konzentrationspunkt voller Möglichkeiten und Simulationen lässt es zu. Er befindet sich in einem scheinbar endlosen Testlauf. Ihn als negatives Zerrbild zu verstehen, wäre ein Missverständnis. Die Künstlerin gibt wieder und spielt mit ihren Mitteln durch, was sich mit unglaublichem Tempo in Chinas Städten, aber nicht nur dort, real verändert.

„RMB-City“ ist auf der Internet-Plattform „Second Life“ der Firma Linden Lab angesiedelt. Bevor sie ebenda ihre Stadt schuf, hatte sich die Künstlerin schon länger mit diesem zweiten „Leben“ vor Ort im Netz beschäftigt. Seit 2003 online können Teilnehmer durch ausgewählte Avatare die wenig gebändigten, urbanen Strukturen erkunden und mit eigener Währung, dem Linden-Dollar, einkaufen, handeln, spekulieren, Geld verdienen oder verlieren. Avatare können einander in den schillerndsten Rollen kennenlernen und sich ausleben. Auch der Avatar „China Tracy“ ging hier auf Streifzüge und suchte intensive Kontakte zu anderen Mitspielern. (Videoarbeit „i.Mirror“ 2007) Um den sehr westlich geprägten Schauplätzen in „Second Life“ etwas entgegenzusetzen, schuf sie mit „RMB-City“ ihre eigene Version städtischer Räume. Dort ließ sie ihre Erfahrungen mit den schnell wachsenden, chinesischen Ballungszentren einfließen.

Inzwischen ist das einst sehr populäre „Second Life“ schon länger nicht mehr angesagt und ziemlich verwaist. Der Boom ist vorbei. Er war nur von kurzer Dauer. Auch „RMB-City“ ist geschlossen und nicht mehr erreichbar. Der Betrachter blickt, etwas paradox, in der Kunstaustellung einer aktuellen und angesagten Künstlerin gleichzeitig in eine der schnelllebigen Phasen des Internets zurück. Die Animationen und grafischen Darstellungen wirken für den Kenner schon veraltet.

Auch andere Film- und Videoarbeiten werden in speziellen Environments mit den unterschiedlichsten Sitzgelegenheiten gezeigt: von der Parkbank des „Night Gardens“ geht es auf das Sitzkissen im bemalten und mit Gebetsfähnchen dekorierten Militärzelt („Nu“ 2006) oder in den einer Hotelsituation inclusive Babybett nachempfundenen „Room 606“ (2018), mit einer Wand aus Pappkartons vom Rest der Ausstellung abgeschirmt. Der Betrachter soll räumlich und situativ eingestimmt werden. Aber damit kommt die Präsentation in Teilen ein wenig requisitenlastig daher. Ein echtes Fabriktor und Stapel von beschrifteten Kartons versperren bei der Videoinstallation „Whose Utopia“ (2006) eher den Blick auf das Wesentliche. Cao Fei animiert Arbeitende in einer chinesischen Lampenfabrik, aus ihrem normierten Alltag kreativ auszubrechen. Sie schlüpfen in Wunschrollen von der Tänzerin bis zum Tai Chi Meister und führen sie in den Fabrikhallen vor. Die Verwandlung hat stark surreale Momente. Oder sind die Arbeitenden, ihren getakteten Abläufen folgend, über Maschinen gebeugt und von ihnen eingekeilt, nicht das eigentlich Surreale? Einigen Akteuren gelang mit diesem Projekt der Absprung in ein anderes und selbstbestimmteres Leben. Natürlich schwingt in solchen Arbeiten Kapitalismuskritik mit: die Arbeitsbedingungen sind schlecht, die Wohnverhältnisse der Beschäftigten oft prekär. Dennoch versteht die Künstlerin ihren Beitrag in einem komplexeren und mehrdeutigen Sinne. Die Veränderungen in China sind vielschichtig und führen oft zu einem Wohlstand, der weitere, unvorhersehbare Veränderungen nach sich zieht – auch wenn der Fortschritt die gezeigten Arbeitsplätze inzwischen durch Automaten ersetzt haben mag.

In anderen Videoarbeiten wie „Haze and Fog“ (2013) oder „La Town“ (2014) verdüstern und verdunkeln sich Situationen und Stimmungen. Die Faszination an den schnellen Veränderungen und ihren technischen Möglichkeiten scheint einer großen Skepsis gewichen zu sein. Menschliches Zusammensein ist nicht durch offene und kreative Momente bestimmt, sondern durch ein anonymisiertes Neben- und Gegeneinander. „Haze und Fog“ führt ein fest gefügtes, soziales System vor, in dem jeder, vom Makler bis zur Putzfrau, seinen unabänderlichen Platz hat. Die einen lassen arbeiten, die anderen müssen arbeiten. Menschen brechen nur im negativen Sinne aus, um sich in Zombies zu verwandeln. Das Ganze spielt sich in und vor grauen, modernen Wohnblocks bei eintrübendem Licht ab. Hier stehen Dunst und Nebel nicht nur für tatsächliche Umweltverschmutzungen, sondern auch in der Kombination von Realem und Fiktionalem für die innere „Eintrübung“ der Bewohner, ihre Entfremdung. Aber wer weiß, der Dunst könnte sich lichten und andere Möglichkeiten als die Isolation des Einzelnen offenlegen. In und hinter dem Nebel mögen sich alternative und positivere Szenarien verbergen. „La Town“ ist in einer dysfunktionalen Welt aus Dioramen, mit Miniaturgebäuden und –figuren bestückt, beheimatet. Man kennt sie aus dem Modellbau. Ihre Verwendung und die Kameraführung lassen alles wie erstarrt wirken. Das Gefühl macht sich breit, dass etwas katastrophal schief läuft. Zootiere brechen aus, Plünderungen finden statt. Vom Brand bis zum Zugunglück, „La Town“ ist gleichzeitig Fantasie und Spiegelung in einem Überall oder Nirgendwo.

Beim Rundgang stößt man auf kleine und große Bronzeplastiken von sehr traditioneller, handwerklicher Machart. Es handelt sich nicht um weitere, gefakte Statuen wie im „Night Garden“, sondern um Originale des Vaters der Künstlerin. Er ist ein im staatlichen Auftrag systemkonform arbeitender Bildhauer alter Schule. Cao Fei hat keine Probleme, seine Arbeiten, größtenteils die Darstellung verdienstvoller chinesischer Staatsmänner, in ihre Präsentation zu integrieren. Sie versteht sich als beteiligte Chronistin. Ihre Familientraditionen und ihr Herkommen gehören dazu. Durch unsere dauerkritische Kulturbrille gesehen kommen diese Plastiken als künstlerisch zweifelhafte, staatstragende Kunst daher. Sie begleiten die Arbeiten „Father“ (2005/2008) und „Nation Father“ (2005-2008). „Father“ ist eine filmische Dokumentation über ihren Vater und seine Arbeit. „Nation Father“ handelt vom Revolutionär Sun Yat-sen, mit dessen Präsidentschaft das alte, chinesische Kaiserreich endete, und seinen medialen Verkörperungen im heutigen China. Vater und „Überväter“, die Väter des modernen chinesischen Staates, werden kontextuell zusammengebracht. Während der Vater noch tief verwurzelt in den Traditionen steckt und mit seinen Werken den „Übervätern“ huldigt, bricht die globalisierte Tochter aus und arbeitet international mit neuen Medien, über die sie den schnellen Wandel, seine Brüche und Widersprüche aufarbeitet. Dieser Generationenwechsel wird zum bedeutsamen Thema.

Natürlich umfasst die Ausstellung in ihrer Fülle an Arbeiten und weiterführendem Material deutlich mehr als die hier kurz vorgestellten Videoinstallationen. Als Fazit bleibt der Eindruck, dass Cao Fei nicht vordergründig ermahnen oder belehren will. Sie zeigt und spricht auch nicht aus, was man aus westlicher Sicht von ihr als Chinesin Kritisches über ihr Heimatland erwarten mag. Ihre persönliche Haltung lässt sie letztlich offen. In der Überlagerung von Dokumentation und Fiktion bleibt sie aktive Chronistin schneller, globaler Veränderungen, die sich in China exemplarisch beobachten lassen. Dabei hat sie keine Scheu vor fremden Einflüssen. Es geht im Verständnis der weltweit agierenden Künstlerin nicht um das „Authentische“ oder „Originale“. Sie ist, wie wir alle, eine Mitspielerin, ohne aus dem „großen“ Spiel aussteigen zu können. Sie handelt mit Strategien schneller Aneignung in einem Geschehen, dem man ausgesetzt ist, und dessen Auswirkungen sie in den späteren Arbeiten als entfremdend aufzeigt. Soziale Bindungen kommen ihren Akteuren abhanden. Urbanisierung und gesellschaftliche Dynamik scheinen sie nicht beweglicher zu machen, sondern zu vereinsamen und ihre Rollen zu verfestigen.

Die Ausstellung lädt zum beschleunigten Mitreisen ein. Die Künstlerin läuft voran, und wir bemühen uns mitzukommen! Sie spürt den schnellen, realen Veränderungen und ihren immer kürzeren Verfallsdaten mit ihren technisch vielseitigen Mitteln nach. Wäre es nicht schade, wenn sie sich zu sehr daran abarbeitet, und ihr Chronistendasein als mitziehender, eher wertungsfreier Beobachtungsposten zu verstehen bliebe? Müssen wir nicht immer hoffen, dass sich Dunst und Nebel lichten, und dahinter sichtbar wird, warum wir es so eilig haben, und wer das Tempo bestimmt?

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Ausstellung:

Cao Fei, Kunstsammlung Düsseldorf - K21, 06.10.2018 - 13.01.2019